Sascha Willenbacher

«Er kam vom Land» – Erinnerungen aus der eigenen Schulzeit

«Er kam vom Land, wie die anderen Kinder es ausdrückten. Die anderen kannten sich bereits seit Jahren. Hierarchien hatten sich gebildet, Gruppendynamiken, die nur sie selbst kannten und von Aussen nicht immer sichtbar waren. Die Schule mochten sie nicht besonders, die Gruppe jedoch war wichtig. Sein Schulweg war weit, er musste zuerst durch den Wald zur Bushaltestelle laufen. Niemand sonst kam mit dem Bus, nur er. Vom Hügel herunter ins Tal. Ein Lehrersohn, ein Streber. Einer mit Brille. Alle anderen waren vom Dorf. Er verstand ihre Welt schlecht, ihre Werte, das, was ihnen wichtig war und sie in ihrem Alltag beschäftigte. Er verstand nicht, wieso sie über ihn lachten, oder er nicht gefragt wurde, um an Geburtstagspartys teilzunehmen. Er war anders. Ein Lehrersohn. Einmal geschah es – das erfuhren die Mädchen erst Jahre später. Jemand hatte in sein Pult gepinkelt. Das waren noch die alten Pulte, bei welchen der Deckel geöffnet werden konnte. Alles Schulmaterial, die Hefte, die Bücher und Stifte waren da versorgt. Alles stank. Alles war feucht, durchnässt. Eklig. Es gab Elterngespräche, Diskussionen. Die Mädchen haben von allem nichts mitgekriegt. Es wurde heimlich unter den Jungs weitererzählt. Gelacht, hämisch wahrscheinlich. Manche Jungs schämten sich dafür. Sie fühlten sich schlecht. Was bei den einen heimliche Genugtuung auslöste, fanden andere eklig und löste in ihnen Angst aus. Der Gruppendruck war gross. Wer gehörte dazu, wer nicht? Warum?» 

Dieser Text entstand im Modul Kulturvermittlung und Theaterpädagogik an der PH FHNW im Herbstsemester 2023. Dieses Modul darf ich nun bereits seit mehreren Jahren gestalten und arbeite dabei unter anderem mit Schreibimpulsen. Die Impulse zielen darauf ab, ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass soziale Identitäten erlernt und durch soziale Praktiken hervorgebracht werden. Dieses Verständnis zu entwickeln gehört zu dem von Melissa Steyn geprägten Ansatz der Critical Diversity Literacy. Um für den Kurs einen Schreibimpuls zu formulieren, adaptierte ich eine Reflexionsfrage aus einem Kartenset zur diskriminierungskritischen Kunstpädagogik. Der Impuls regte dazu an, sich an eigene Erfahrungen mit und/oder an Situationen der Ein- und Ausgrenzung zu erinnern.

Daraus entstanden dann mehrere Text. «Er kam vom Land» habe ich für das Workbook ausgewählt, weil er mir exemplarisch zu sein scheint für alltägliche Diskriminierungen, die entlang verschiedener sozialer Hierarchieachsen verlaufen können. Texte wie dieser, in der angehende Lehrpersonen selbst erlebte Situationen der Ausgrenzung beschreiben, sensibilisieren den Blick für die eigenen Konstrukte, die sich aufgrund der zeitlichen Entfernung als etwas sozial Hervorgebrachtes zeigen.

Im Audio-Track sind verschiedene Stimmen hörbar. Es sind Stimmen von Studierenden aus dem Modul. Teilweise sprechen sie die Texte, die sie selbst verfasst haben, teilweise aber auch Texte von anderen Studierenden aus dem Kurs. Die kurzen Erzählungen zu erfahrenen oder beobachteten Ausgrenzungen werden im Audio-Beitrag kontrastiert mit Stimmen und Geräuschen, die von den Studierenden mit Zugehörigkeit und Heimat assoziiert werden.

Der hier geteilte Audio-Beitrag war Teil einer Hörausstellung im Rahmen des Projekts «Ohren auf Reisen», die von Februar bis April 2024 im Basler Museum der Kulturen besucht werden konnte.