Theresa Burggaller

unframed classical music

Was ist klassische Musik ohne ihren heutigen Rahmen? Wie kann ich als Mensch und Musikerin in unserer turbulenten Welt die Intimität, Direktheit und Schönheit von Musik teilen?

Mit diesen Fragen möchte ich nicht die gesamte Tradition und Struktur umkrempeln, sondern für mich herausfinden, was klassische Musik ohne ihren starren Rahmen eigentlich ist, was sie kann und vor allem, wen sie erreicht. Mir ist es ein Bedürfnis die Konventionen der klassischen Musikszene zu hinterfragen, zu experimentieren und mich Neues zu trauen.

Schon immer fand ich die vielen, mit klassischer Musik verbundenen Konventionen befremdlich. Einerseits als Rädchen in der Maschinerie in Ausbildung und Konzertleben sowie als Zuhörerin in Konzerten. Mit dem wettkampforientierten Markt (höher, weiter, schneller, lauter, virtuoser, perfekter) und den früh beginnenden egozentrischen, unkollegialen Ellbogenkämpfen. Beim Konzertbesuch starre Abläufe und strenge Verhaltenscodes. Einem Rahmen, der die wunderbare Musik selbst in den Hintergrund rücken lässt. Dadurch das Image klassischer Musik: Elitär, unzugänglich, langweilig, verstaubt. Abschreckend.

Doch was hat das mit der Musik selbst zu tun? Wer sagt, dass diese Traditionen dazu gehören? Warum sollte ich so viel Herzblut in etwas stecken, das für die wenigsten Menschen zugänglich ist? Wie schaffe ich es, meine Leidenschaft zu teilen?

Ich wollte diesen Rahmen irgendwie durchbrechen. Die Musik da rausholen und unter zufällige Menschen bringen. Nur für einen Augenblick. Nach meinen eigenen Vorstellungen. Ich wollte auch die Anonymität, die Ignoranz, den Egoismus, die Oberflächlichkeit des Alltags in der Großstadt durchbrechen. Menschen überraschen. Sie für einen Moment fesseln, zur Ruhe bringen und mein Spiel einen Spiegel ihrer Emotionen sein lassen.

Wenn ich Bratsche spiele, will ich kein Label. Keinen vorgefertigten Rahmen, keine altmodischen Regeln für die Zuhörenden und keine hohe Bühne, die mich über alle erhebt.

Wenn ich spiele, zeige ich mein Innerstes. Meine Empfindungen, Erfahrungen, Erinnerungen. Musik ist für mich ein Medium, eine Sprache ohne Worte. Eine Sprache, die jedes offene Ohr ansprechen kann, jedes wachsame Ohr auf seine Weise verstehen kann. Ein Medium, das durch seine Einladung zum gemeinsamen Erleben von Emotionen Empathie schaffen kann. Für mich liegt hier die enorme Kraft und Schönheit von Musik.

Den Rahmen klassischer Musik durchbrechen, den um sich selbst kreisenden Alltagstrott durchbrechen. In Bars und Cafés – an angenehmen Orten, in entspannter Atmosphäre, wo Menschen sich wohlfühlen – ohne Vorankündigung für fünf Minuten spielen und dann wieder verschwinden. Das war meine Idee. Ein kleines Experiment. Schauen, was sich daraus entwickeln könnte.

Bei 14 Bars und Cafés in Zürich habe ich angefragt, ob ich bei ihnen spielen dürfte. Nur eine Bar hatte kein Interesse, alle anderen waren offen. Also bin ich losgezogen, habe an sechs Orten gespielt. Es brauchte Überwindung an einem Freitagabend in einer vollen Bar auf der Langstrasse meine Bratsche auszupacken und zu spielen. Es brauchte Überwindung an jedem der Orte, ich fühlte mich verletzlich vor den fremden Menschen. Nahm mir ungefragt ihre Aufmerksamkeit und drängte ihnen ungebeten meine Musik auf. Aber ich wurde immer freier und sicherer in meinem Tun, hatte das Gefühl, mehr und mehr mit meinem Spiel teilen zu können und zu wollen. Ich habe immer den ersten Satz der Suite Nr. 1 für Bratsche solo in g-Moll von Max Reger gespielt. Einen langsamen und ausdrucksstarken, erzählenden Satz.

Manchmal wurde ich von Barkeepern angesagt, die für Ruhe sorgten, manchmal habe ich einfach im Gewusel begonnen. Manchmal war es voll, manchmal leer. Einmal hielten alle den Atem an, es war mucksmäuschenstill. Einmal schenkten mir nur wenige Menschen Aufmerksamkeit, Rockmusik lief aus Lautsprechern im Hintergrund, Menschen redeten, es war sehr voll. War der Raum verschachtelt, war es schwieriger die Aufmerksamkeit aller zu bekommen. Wurde ich angesagt, fühlte es sich an als stünde die Bar hinter mir, als bekäme ich erstmal mehr Aufmerksamkeit und Respekt.

Es gab immer Applaus, freundliche Blicke, gelangweilte Blicke, dankbare Blicke, abwartende Blicke aufs Handy. Manchmal kamen Menschen danach zu mir, waren berührt, waren dankbar, wollten mehr hören. Mehr über das Projekt wissen, über das Stück, über andere Konzerte. Andere Menschen verdrehten die Augen. Jemand stand mal auf und ging.

Für mich war es eine wichtige Erfahrung, klassische Musik in einen anderen Kontext zu setzten und sie mit einer breiteren Masse zufälliger Menschen zu teilen. Die Erfahrungen nicht im Hamsterrad laufen zu müssen. Sie gibt mir Motivation, das Projekt auszuweiten – Werbung zu machen mit den Blitzkonzerten in Bars und Cafés und dann an unkonventionellen Orten, in lockerem Setting etwas längere Konzerte zu geben. Der Musik möchte ich ihren Raum geben, während ich den Rahmen mit seinen Konventionen aufweiche und mit dem Drumherum kreativ und spontan herumexperimentiere. Bin ich ausserhalb des Rahmens, kann ich sowieso machen, was ich will.

Den Raum und den Mut zur Entwicklung meines Projekts habe ich im Jahr 2024 im Rahmen des Projekts „Geschichten, die uns bilden“ an der Zürcher Hochschule der Künste gefunden. Eine abschließende kleine Ausstellung im K72 in Zürich, sowie eine von mir geführte Diskussionsrunde „What about classical music?“ haben mich in meinen Ideen und Reflexionen unterstützt und mir abermals die Notwendigkeit des Hinterfragens der klassischen Musikszene vor Augen geführt. Das Projekt wurde gefördert vom Dossier Internationales und Dossier Nachhaltigkeit der ZHdK.