Die Soziale Arbeit folgt dem Grundsatz, möglichst alle Menschen vor Ausschluss zu schützen (Avenir Social, 2010). So wird schnell angenommen, dass Fachpersonen der Sozialen Arbeit selbst nicht an Ausschlussmechanismen beteiligt sind. Ist das aber wirklich so?
Das Bundesprogramm „Projets urbains – Gesellschaftliche Integration in Wohngebieten“ ist ein Beispiel dafür, dass auch Sozialarbeitende Gefahr laufen, unbewusst durch Kulturalisierung gesellschaftliche Ausschlussmechanismen für bestimmte soziale Gruppen zu reproduzieren. Das Programm hatte zum Ziel, die Lebensqualität und Entfaltungsmöglichkeiten aller Bewohnenden bestimmter Stadtteile zu verbessern. Das Bundesprogramm wurde zwar nicht von Fachpersonen der Sozialen Arbeit konzeptualisiert, aber die Erkenntnisse und Ergebnisse hatten durchaus Einfluss auf sozialarbeiterische Institutionen. Der Schlussbericht des Programms dokumentiert die Ergebnisse und die Bedürfnisse der Wohnbevölkerung, jedoch nur derjenigen Personen, die sich beteiligen konnten. Im Schlussbericht zeigte sich, dass der Beteiligungsgrad für die Wohnbevölkerung der definierten Gebiete nicht repräsentativ war (Interface, 2016, S.26). Der Grund, weshalb gewisse soziale Gruppen sich nicht beteiligten, wurde allerdings nicht evaluiert. Dies birgt die Gefahr, dass seitens der Fachpersonen der Sozialen Arbeit ein nicht evidenzbasierter Zusammenhang zu „kulturellen Hintergründen“ der Personengruppen angenommen wird, ohne dabei die Machtverhältnisse, der methodische Zugang und die reale gesellschaftspolitische Lage zu reflektieren. Dieses Beispiel zeigt auf, dass oft unbemerkt zu einer kulturalisierenden Betrachtungsweise und Argumentationslinie gegriffen wird. Aber was genau beschreibt die Praktik der Kulturalisierung und warum kann sie ausschliessend wirken?
Kulturalisierung geschieht meistens in zwei Schritten: Erstens, dass über Bevölkerungsgruppe oder auch über individuelle Adressat*innen der Sozialen Arbeit Annahmen getroffen werden, die einem „kulturellen Hintergrund“ zugewiesen werden. Zweitens werden auf Grund der Annahmen, Zuschreibungen gemacht und mit diesen gewisse Verhaltensweisen oder Lebensumstände erklärt. Anita Kalpaka (2015) sieht in dieser Praktik zwei Hauptprobleme: Zum einen sind nur angenommene und nicht erfragte Aspekte über Menschen, sehr reduktionistisch und fremdbestimmend. Zum anderen besteht die Gefahr, dass reale Lebensumstände nicht beachtet werden, wenn der Fokus nur auf dem Erklärungsmuster eines „kulturellen Hintergrundes“ bleibt (S.387-405). Hinzukommt, dass durch die Homogenisierung „kultureller Hintergründe“ die betroffene Personen mit ungerechtfertigten Vorurteilen und Stereotypisierung konfrontiert werden, die gerade durch die Benennung durch die Soziale Arbeit reproduziert und auch verstärkt werden (Kessl & Reutlinger, 2010, S.125-133).
In Partizipationsprozessen sind solche kulturalisierenden Praktiken immer wieder zu beobachten. Zu Beginn eines Partizipationsprozesses finden in der Regel Analysen statt (Willener & Fritz, 2019, S.159-176). Dabei werden teilweise Kategorien wie „kultureller Hintergrund“ oder „Migrationshintergrund“ konstruiert, um die Informationen zu ordnen. So besteht die Gefahr, wie oben schon beschrieben, dass Menschengruppen dabei homogenisiert werden und ihre Bedürfnisse, Anliegen und Interessen auf einen vorausgesetzten „kulturellen Hintergrund“ reduziert und damit abgewertet werden. Die Soziologin Simone Gretler-Heusser war schon an einigen Partizipationsprozessen beteiligt und sieht die größte Herausforderung darin, dass Adressat*innen, welche nicht an Partizipationsprozessen teilnehmen oft ohne Kontextualisierung und Differenzierung ein „kulturellen Hintergrund“ zugeschrieben wird (Fachgespräch, 6. Juli 2023). Was mit „kulturellem Hintergrund“ gemeint ist, wird nicht differenziert und benannt. Gretler-Heusser stellte fest, dass die zu erreichenden Personengruppen oft einer Woorking-Poor-Schicht angehören und aufgrund fehlender zeitlicher Ressourcen nicht an Partizipationsprozessen teilnehmen können. Somit werden die realen Lebensumstände nicht berücksichtigt und Zugänge zu partizipativen Prozessen und somit zur gesellschaftlichen Teilhabe eingeschränkt.
Es besteht die Notwendigkeit, die tatsächlichen Barrieren der gesellschaftlichen Teilhabe zu identifizieren. Gretler-Heusser (2023) erachtet es als unumgänglich, dass sich Fachpersonen der Sozialen Arbeit einem grundsätzlichen Selbstreflexionsprozess unterziehen und eine systemkritische – im Sinne einer kapitalismuskritischen Perspektive – entwickeln. Es sind oft systemische ökonomische oder strukturelle Hindernisse der Grund der Nicht-Beteiligung von marginalisierten sozialen Gruppen an Partizipationsprozessen. Insbesondere weil die Soziale Arbeit zwischen dem Alltag von sozialen Gruppen und gesellschaftlichen Strukturen zu vermitteln versucht, ist es von großer Bedeutung, dass Fachpersonen soziale Phänomene erkennen, benennen und problematisieren können (Hangarten, 2013, S.267-282). Gretler-Heusser (2023) betont, dass es dazu keine neuen Methoden und Herangehensweisen braucht, sondern vielmehr den Mut zu einer klaren Positionierung. Die Partizipation und die Teilhabe aller ist einer der wichtigsten Grundsätze der Sozialen Arbeit und insbesondere der Soziokultur. Es müssen die Ergebnisse, aber auch die „Nicht-Ergebnisse“ differenziert evaluiert und analysiert werden.
